Andacht zur Karwoche 2020

Pfarrer Dr. Hartmut Becks
über Matthäus 26, 36 - 46

36 Da kam Jesus mit ihnen zu einem Garten, der hieß Gethsemane, und sprach zu den Jüngern: Setzt euch hier, solange ich dorthin gehe und bete. 37 Und er nahm mit sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus und fing an zu trauern und zu zagen. 38 Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wacht mit mir! 39 Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst! 40 Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? 41 Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach. 42 Zum zweiten Mal ging er wieder hin, betete und sprach: Mein Vater, ist’s nicht möglich, dass dieser Kelch an mir vorüber gehe, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille! 43 Und er kam und fand sie abermals schlafend, und ihre Augen waren voller Schlaf. 44 Und er ließ sie und ging abermals hin und betete zum dritten Mal und redete dieselben Worte. 45 Dann kam er zu seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Ach, wollt ihr weiter schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist da, dass der Menschensohn in die Hände der Sünder überantwortet wird. 46 Steht auf, lasst uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät.
(Matthäus 26, 36 - 46)

Liebe Gemeinde!

Damit kein Missverständnis aufkommt:

  • Die Sehnsucht, um die es hier geht,
    ist nicht von dieser Welt!
  • Das Vertrauen, um das es hier geht,
    ist nicht von dieser Welt!
  • Der Trost, um den es hier geht,
    ist nicht von dieser Welt!
  • Und selbst die Liebe, um die es hier vor allem geht,
    ist nicht von dieser Welt!

Man muss das inzwischen so deutlich betonen in Zeiten, in denen Ewigkeit so vielen wie selbstverständlich abhanden gekommen ist. In Zeiten, in denen das Reich Gottes fremd klingt, naiv, kindisch, in jedem Fall unbrauchbar. In Zeiten, in denen es einzig legitim erscheint, sich auf ein gelingendes Leben im Hier und Jetzt zu konzentrieren und nicht seine Zeit zu verschwenden mit etwas, das darüber hinausgehen könnte. Ein Ratgeber zur Selbstoptimierung zum schöneren Leben ist dieser Text wahrlich nicht. Wer hier Balsam für seine gestresste Seele oder Hilfen für seine Alltagsprobleme erwartet, der verkennt das Thema, um das es hier eigentlich geht, und sollte die Worte schnell wieder zur Seite legen. Die Passion Jesu ist keine Erbauungsliteratur, schon gar keine fromme Beruhigung oder religiöse Vernebelung. Vielmehr geht es sehr nüchtern um die Frage der Existenz des Menschen, um Leben und Tod, Sein oder Nicht-Sein, Freiheit oder Versklavung. Jesus weiß natürlich genau, dass er sterben wird. Auch uns modernen Menschen ist unsere Endlichkeit doch vollkommen klar. Aber eben dies zerreißt uns auch: Denn es setzt uns unter Druck möglichst viel herauszuholen in der Zeitspanne zwischen Dunkelheit und Nichts. Damit uns der Tod nicht die Begrenztheit vor Augen führt und uns lähmt, drängen wir ihn möglichst heraus oder ignorieren ihn. Aber es bleibt ein Eiertanz, denn der Tod ist nicht begreifbar, nicht verfügbar, handhabbar. Letztlich liegt darum ja auch dieser Mensch Jesus hier verkrümmt in jenem Garten Gethsemane. Seine Ratio nützt ihm nichts. Gethsemane ist eigentlich ein schöner Ort, voller Ruhe und Frieden. Ein milder Nachtwind unter einem dunklen Sternenhimmel. Die üppigen Olivenbäume des Sommers, die der Wind durchstreift. Alles Schwere müsste doch weichen, alles Bedrückende vergehen. Aber der Schmerz lässt sich nicht so leicht umgarnen, die Wahrheit erträgt keine Idylle. Daher bleibt auch unsere Seele oft so aufgewühlt. Obgleich die Welt doch äußerlich so wohlständig, perfekt organisiert und behütet erscheint, ist in uns oft eine eigenartige Unruhe und Besorgnis. Indem wir Trauer und Traurigkeit nicht gelten lassen, flirrt sie in allem mit. Jesus will sich hier nicht ablenken lassen oder seine Sinne betäuben. Er stellt sich dem Schweren und ‚fing an zu trauern und zu zagen‘. Überhaupt so weit zu gehen, ist für manchen schon ein großer Schritt. Wer hilft in solchen Momenten? Doch wohl deine Freunde, die wachsam sind und auf dich aufpassen: „Bleibt hier und wacht mit mir!“ Die Freunde können helfen, wenn sie wach bleiben, wenn sie nicht auch verdrängen und schönreden wie die anderen. Wenn sie die Augen aufhalten und die Wahrheit aushalten, mit-leiden! Man kann doch nicht die Augen vor dem Leid verschließen, man kann doch nicht schlafen, wenn es um den einzigen Trost, um die einzige Hoffnung unseres Daseins geht. Oder?

Ich denke, Jesus erwartet von seinen Freunden keine Vertröstungen, keine Aufmunterungen, sondern nur wache Sinne. Er stammelt sein Gebet, diesen Aufschrei aus der Not, den wir alle kennen: „Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber!“ Erlöse mich aus dem Unglück. Befreie mich von diesem Schmerz. Hilf mir heraus! Hilf mir eilends! So beten ja jetzt im Angesicht einer unfassbaren Bedrohung auch viele Menschen in der Corona-Krise!

Und nun kommt der KELCH ins Spiel. Er ist das große biblische Symbol der Endlichkeit und der Ewigkeit unseres Lebens zugleich. Denn der Kelch weist mit seiner dunklen Seite auf den Boden, mit aller Gebundenheit unserer irdischen Existenz, und zugleich mit seiner lichten Seite nach oben zur Ewigkeit, zum Himmel ausgerichtet, zum unverfügbaren Segen Gottes. „Lass diesen Kelch an mir vorübergehen!“ meint darum: Lieber wäre es mir, ich hätte selbst die Kontrolle über mein Schicksal, ich wäre nicht ausgeliefert, unsicher, sondern hätte alles alleine im Griff.

Das ist unser Thema: Der Mensch; der für sich beansprucht, die Geschicke des Weltkreises zu lenken, der ‚Homo faber‘, der alles machen, steuern und sichern kann und sich der Suggestion hingibt, nicht ausgeliefert zu sein. Der dann in der behaglichen Annahme lebt, Glück und Verderben, Leben und Sterben selbst in der Hand zu haben. Und am Ende hinge es nur am richtigen Gebrauch seiner Möglichkeiten und Kompetenzen, ob das Dasein gelingt oder nicht. „Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst...“ sagt Jesus. Scheinbar nur ein winziger Augenblick für Jesus und doch ein gewaltiger Moment für die Menschheit! Denn was Jesus hier zum Ausdruck bringt, ist das Vertrauen in Ewigkeit, die innere Einwilligung in eine weitere Hoffnung und höhere Perspektive, die nicht allein in unserer Macht steht, sondern in Gottes.

Hier wird die Grenze des Humanum markiert und zugleich die Hoffnung einer demütigeren und gewisseren Zukunftsperspektive, die eben weit über alle menschliche Vernunft hinausragt. Aber schon ist dieser Moment wieder verflogen: Jesus schreckt auf, sieht um sich und erkennt: Seine Freunde schlafen einfach. Sie haben nichts von alldem begriffen. Das Unerträgliche hat sie so müde gemacht, dass sie die Augen davor verschlossen haben. Hätte Jesus nicht damit rechnen müssen? Enttäuscht fragt er Petrus: „Könntet ihr nicht eine Stunde mit mir wach bleiben?“ Wir setzen oft große Hoffnungen auf unsere Freunde. Sie sind für uns so eine Art Lebensversicherung. Mancher sagt: ‚Auf meinen Freund kann ich mich absolut verlassen!‘ Und hin und wieder geschieht das auch: Aber wie oft auch leider nicht. In der Not tauchen viele plötzlich ab, die du einmal zu deinen Freunden gezählt hattest. Was bleibt dir dann? Auch hier überschätzen wir Menschen leicht unsere Größe. Wir geben Versprechungen ab, Gelöbnisse für die Zukunft, die gewaltig sind, aber uneinhaltbar. So gerne würden wir dem Ideal entsprechen, dem Bild, das wir uns von uns selbst wünschen. „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach!“ Petrus und all die anderen Freunde also auch nur Menschen wie wir: wankend, unzuverlässig, oft schwach.

Und Jesus an diesem Abend? Auch er zaudert, ringt mit sich, ist unsicher. Wieder betet er, zum zweiten Mal, genau die gleichen Worte. Als ob er seinen Ersten nicht traut. Wieder bittet er verzweifelt das Gleiche: „Erspare mir, Gott, dieses Leiden.“ Und wie eine Selbstkorrektur: „Aber nicht mein Wille geschehe, sondern dein Wille!“ Und die Jünger verschließen wieder die Augen davor, schlummern weg, als ob all das gar nicht geschieht. Jesus hockt da, als ob seine Seele, sein Geist sich einfügen will in die Weite der Ewigkeit, in die Hand Gottes.

Es geht hier also nicht um die naheliegende Sehnsucht des Menschen, das Leben sicher zu steuern, sondern um die Sehnsucht, echten Frieden zu finden. Es geht eben nicht um das Vertrauen in menschliche Möglichkeiten, in Technik oder Medizin, sondern um das Gespür für einen Segen, der unverfügbar und heilsam zugleich ist. Es geht auch nicht um einen Trost, der den Tod verharmlosen oder kleinreden will und damit vertröstet, sondern es geht um den einzigen Trost im Leben und im Sterben, der uns sicher macht, niemals aus Gottes Hand fallen zu können. Es geht um die Gewissheit, dass das Leben in Gottes Reich nicht endet, sondern verwandelt wird. Und darum geht es am Ende auch nicht um die Liebe der Welt, und sei sie menschlich noch so wunderbar. Es geht nicht um die Liebe, die wir uns geben können in aller Gebrochenheit, mit allen Enttäuschungen und Kränkungen, die damit immer auch verbunden sind. Sondern es geht um eine Liebe, die uns verheißen ist weit über all die schwankenden Gefühle der Welt hinaus. Eine Liebe, die wie ein gewaltiger Urozean trägt und verbindet über alle Dimensionen und Grenzen des Vorstellbaren hinaus. Eine Liebe, die unsere Zerrissenheit heilt, die die Gräben der Schuld endgültig überwindet. Eine Liebe, die die Enge der Angst sprengt und die unendliche Güte des Reiches Gottes in sich trägt. Um diese Liebe allein geht es. Und darum ist Jesus nach seinem Gebet in diesem Garten bereit, weiter zu gehen, den Kelch doch aus der Hand Gottes zu nehmen. Sich – wie er sagt – sogar in die Hände der Zerrissenen, der Sünder, auszuliefern, um diese Liebe, um diese Ewigkeit auszubreiten.

„Ach, wollt ihr weiter schlafen und ruhen?“ Wollen wir weiter unsere Augen verschließen und wie alle Welt sagen: Das sei doch alles nur ein ‚Eia-popeia‘ vom Himmel (Heinrich Heine), eine billige und lächerliche Vertröstung. Oder werden wir wach, wach genug, um auch geistig und intellektuell zu erkennen, dass gerade die Verheißung der Moderne, dass der Mensch alles in der Hand hat, die eigentliche Suggestion, die eigentliche Vertröstung ist, die wir ganz neu zu hinterfragen haben.

Könnten wir uns aufmachen zu einer völlig neuen, sozusagen aufgeklärten Form moderner Demut? „Steht auf und lasst uns gehen!“ Amen.