Systemrelevanz - ein theologischer Zwischenruf

Wofür uns diese Krise nun hoffentlich die Augen öffnet: dass die Kirche jedenfalls nicht „systemrelevant“ für die derzeitige Gesellschaft ist. Glauben und Religion sind in modernen Systemen, in denen Menschen heute zu leben und auch zu über-leben haben, letztlich funktionslos. Sie sind Marginalien, traditionell geduldete Reminiszenz, im besten Falle sentimental anrührende Folklore. Jedoch im Ernstfall – wie man jetzt deutlich erkennt – schlichtweg zu entbehren. Religion ist nach naturwissenschaftlicher Logik der Effizienzgesellschaft in ihren Wirkungen darum ebenso eine „Gefahrenquelle“ wie alle anderen Bereiche des Freizeitentertainments auch. Daher kann sie mit gutem Recht keinerlei Vorrang reklamieren und hat sich selbstverständlich auch allen Anordnungen der politischen Epidemiologen strikt zu fügen.

Das mag eine Kränkung für kirchliche Insider sein, die aber nur daher rührt, dass die Kirche viel zu lange der Suggestion ihres öffentlichen Geltungsanspruches erlegen war. In der Moderne hat sie ihre eigene Bedeutsamkeit aktiv herbei konstruiert. Für das System des Marktes allerdings, des Fortschrittes und der absoluten Geltung von Rationalität bedarf es im Grunde keiner Religion. Sie ist eher eine Lähmung, eine kuriose Paradoxie, und kann in Krisensituationen eher zu einer „Sicherheitslücke“ für das System werden.

Aus dieser Perspektive ist es also völlig nachvollziehbar, dass die liberale Theologie sofort zurückgetreten ist, als es um die reale Bedrohung von Leib und Leben ging. Daher sind nun auch eher Virologen und Ökonomen, Mediziner und Politiker die säkularen Propheten, die täglich in den Talk-Shows ihre Heils- und Unheilsbotschaften verkündigen. Theologen wirken als Hüter einer vergangenen Welt, vor allem aber einer naiven und eingeschränkten Wirklichkeitsauffassung, die in der Moderne als längst überwunden zu gelten hat. Sie ist in den Vollzügen des Systems kompetenzlos.

Daher ist es also kein Zufall, dass die Kirchen in dieser besonderen Corona-Krise wie paralysiert wirken. Der Spiegel, der ihnen nun vorgehalten wird, ist wie ein Wirklichkeits-schock. Die Reaktion darauf, jetzt ausschließlich in den staatlich gestatteten Bahnen der Digitalität und der Hygienekonzeptionen Zuflucht zu suchen, ist völlig nachvollziehbar, aber doch ernüchternd. Ebenso die Strategie, nun gerade in übereifriger Weise den Schutz-konzepten Genüge zu tun, um damit die besondere Integrität, Veritabilität und Nützlichkeit der kirchlichen Institutionen im System zu untermauern, zeugt eher von kaschierter Ratlosigkeit. Ganz besonders die unbedingte Bereitschaft, konsequent systemloyal auf jegliche Form kirchlicher Präsenz außerhalb des virtuellen Raumes zu verzichten, macht einen gewaltigen Sprach- und Profilverlust deutlich. Andererseits wird aber nun offenkundig, dass der Protestantismus schon seit geraumer Zeit wieder in das Fahrwasser der liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts zurückgekehrt ist und zum Garanten gesellschaftlicher Normen und Erfüllungsgehilfen von Anordnungen wird.

Die Kirche reklamiert diakonische und karitative Kompetenz, vor allem humanistisches Profil, um zivilgesellschaftliche Relevanz zu untermauern. Doch längst können auch andere kompetente Sozialträger dieses angebliche Alleinstellungsmerkmal relativieren. Wenn einige Intellektuelle die wenigen Verlautbarungen kirchlicher Amtsträger in diesen Tagen als „jämmerlich und blass“ erleben, dann drückt sich darin eben jene Lage aus, in der sich Religion in modernen Gesellschaften befindet.

Was ist zu tun?

Statt der verzweifelten Versuche, „Systemrelevanz“ für sich zu reklamieren, sollte sich die Evangelische Theologie eher wieder selbstbewusster ihrer „Systemdistanz“ erinnern. Dabei geht es ja nicht darum, grundsätzlich oppositionell zum Gesellschaftskonsens zu stehen, sondern um die Tatsache, dass Religion per definitionem einen völlig anderen Standpunkt einzunehmen hat. Der Glaube muss für sich einen höheren Zugriff auf Wirklichkeit, in gewisser Weise auch „Erhabenheit“ für sich in Anspruch nehmen: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (Joh. 16, 33)

Ohne diese eschatologische Ausrichtung, ohne diese Kraftquelle der Transzendenz, ohne das unbedingte Bewusstsein von Ewigkeit und der damit verbundenen Horizontverschiebung wäre die christliche Kirche in der Tat irrelevant. Die ganz neutestamentliche Verkündigung, insbesondere die Botschaft Jesu, ist bekanntlich ganz und gar ausgerichtet auf das „Himmelreich, auf das Reich Gottes“. Der „einzige Trost im Leben und im Sterben“ besteht eben nicht in verheißungsvollen Sicherheitskonzepten oder im Versprechen von immanenter Glückseligkeit und Wohlfahrt. Der Trost – daran muss heute vielleicht mehr denn je erinnert werden – bezieht sich doch gerade auf die „Weltenthobenheit der Erlösung“. Sonst wäre es nämlich eher eine Vertröstung. Es ist das Wissen um die unantastbare Geborgenheit der Seele, was auch immer ihr irdisch zustoßen mag, wie es der Heidelberger Katechismus formuliert: „dass ich nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.“

Mit diesem Vorhalt muss christliche Theologie den weltlichen Systemen gegenübertreten und damit immer eine gewisse Reserve wahren. Sie kann nicht anders, weil sie von dem „totaliter aliter“ (dem ganz Anderen) reden muss. Der Auftrag der Kirche kann so nie zum Integral einer gesellschaftlichen oder staatlichen Vorsorge- und Sicherheitskultur werden. Im Gegenteil, sie muss sogar in bestimmten Fällen den Drohszenarien und dem Beängstigungsdruck der politischen Agitatoren vehement widersprechen.

Im Moment von Krisen leben Menschen zunehmend in einer anschwellenden Flut von Furcht und Lebenssorge, die nicht selten psychisch völlig irrational und unverhältnismäßig wird. Dem Klima der Angst und des materiellen Fatalismus muss darum die Kirche gerade jetzt lautstark widersprechen: „Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Tim. 1, 7) So hat sich die Theologie auch darauf zurückzubesinnen, nicht „systemrelevant“ zu sein und auch nicht werden zu wollen. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, Menschen wieder die Perspektive zu eröffnen, unter der unser Leben wirklich steht. Nämlich: der befreienden Erkenntnis eines ganz und gar unverfügbaren Segens.

Das ist eben kein Aufruf zu unbesonnenem oder leichtsinnigem Verhalten, es ist auch mitnichten ein Plädoyer zur Verweigerung von vernünftigen Maßnahmen. Aber es ist ein deutlicher Ruf gegen jede übertriebene Hysterie und eine eindringliche Verwahrung gegen jede Form rationaler Selbstüberschätzung des Menschen. Protestantische Theologie sollte gerade jetzt nicht einstimmen in den Chor der Besorgten, sondern die Gelassenheit und Zuversicht eröffnen, die uns verheißen ist. Kirche darf nicht den Versuch unternehmen, sich in der Politik zu spiegeln, sondern sie hat im Gegenteil der Politik den Spiegel vorzuhalten!

Dr. Hartmut Becks